Die Flankenkasematten des ehemaligen Fort Bingen

von Hans-Rudolf Neumann

Mit dem Neubau eines Fachbereichsgebäudes für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz wurde ein Bauplatz gewählt, der sich größtenteils auf dem Gelände des ehemaligen Forts Bingen befindet. Da bereits vor Beginn der Planungsmaßnahmen der ungefähre Verlauf eventuell unterirdisch vorhandener Restanlagen bestimmt werden konnte, war eine sorgfältige Freilegung während der Ausschachtungsarbeiten der Baugrube sowie nach Bestätigung einzelner Teile auch die Einplanung in den Neubau möglich.

Baugeschichte des Fort Bingens

Die Flankenkasematte in der Baustelle des ReWi-Gebäudes auf der Mainzer Universität

Der Bau des Forts Bingen fiel in die dritte Befestigungsphase des Ausbaus der Bundesfestung Mainz (1860-1866). Dienten die beiden Befestigungsphasen in den Jahren 1825 bis 1834 und von 1841 bis 1847 noch der schrittweisen baulichen Sicherung der gesamten Festung Mainz, war das Augenmerk nunmehr auf punktuelle Verbesserungen gerichtet, die sich vor allem aus der Entwicklung und dem Einsatz neuartiger Geschützwaffen in Form gezogener Rohre ergaben. Man glaubte Verbesserungen dadurch zu erzielen, dass man nach Auswertung der pioniertechnischen Erkenntnisse aus dem Krim-Krieg (1853-1856) unter anderem gezielte Baumaßnahmen forderte, die als Schutz vor der Wirkung gezogener Geschütze angesehen werden konnten. Dazu gehörte der Bau neuer Forts, die teilweise vor dem schon in den vierziger Jahren ausgebauten Fortgürtel lagen, teilweise ihn verstärken sollten. Hierzu zählten die ausgeführten Forts Bingen und Gonsenheim, das projektierte Fort auf der Ingelheimer Aue und das neu erbaute Fort auf der Mainspitze.

Einzelne Forderungen der Militär-Kommission der Deutschen Bundesversammlung vom 23. Dezember 1860 wurden von der Mainzer Genie-Direktion im Laufe des Jahres 1861 als Projekte ausgearbeitet; letztere kam unter anderem zu dem Ergebnis, dass der Umbau des Kirchhof-Turms und des Forts Judensand teurer würden als der Bau zweier neuer Werke. Diese beiden neuen Werke - Fort Bingen und Fort Gonsenheim - böten zudem zusätzlichen Raum zur Bereitstellung von Truppen in ihrem Rücken, könnten den Hauptstein durch Flankenwirkung auf dem Hartenberg und die Binger Landstraße hervorragend decken, das gesamte Vorterrain bis zum Gonsenheimer Tal bestreichen und in ihrer Bauweise selbst den modernsten Erfordernissen, einschließlich des Schutzes vor der Wirkung gezogener Geschütze genügen. Am 13. März 1862 genehmigte die Deutsche Bundesversammlung die beantragten Verstärkungsmaßnahmen, darunter den Bau der beiden Forts Bingen und Gonsenheim. Jedes dieser beiden Forts sollte 279 000 Gulden kosten.

Die preußische Geniedirektion von Mainz stand zu diesem Zeitpunkt bis zum 8. Februar 1861 unter der Leitung des Majors Heinrich von Ernst; mit diesem Datum übernahm der aus Luxemburg kommende Major Ferdinand Schulz die Dienstgeschäfte, um sie am 28. Oktober 1863 an den Oberstleutnant Hans Alexis von Biehler weiterzugeben. Somit standen Planungs- und Bauarbeiten des Forts Bingen unter der Leitung dreier verschiedener Bauamtsleiter. Im September 1865 löste der Major Hermann August von Gaertner Biehler ab und übernahm damit unter anderem auch die Fertigstellungsgeschäfte für das Fort Bingen.

Nach Genehmigung durch die Bundesversammlung begannen im März/April 1863 ausführliche Entwurfsplanungen, die allesamt von dem preußischen Ingenieurhauptmann und nachmaligen Generalmajor und Inspekteur der 6. Festungs-Inspektion zu Metz, Gustav Treumann, stammten. Detailzeichnungen wurden mit fortschreitender Baudurchführung im Laufe des Jahres 1864 von dem aus Hannover stammenden Ingenieuroffizier Goetze und dem preußischen Ingenieurhauptmann Frosch aufgestellt; letzterer fertigte ab 1865 auch die Baubestandszeichnungen an.

Der Bau des Forts Bingen vollzog sich etwas später als der Bau des Forts Gonsenheim. Wegen der gestiegenen Grundstückspreise musste vor Baubeginn zunächst ein Enteignungsverfahren durchgeführt werden. Die Entwurfsplanungen konnten am 3. Juni 1863 von der Militär-Kommission in Frankfurt genehmigt werden, desgleichen die Verträge zum Grundankauf im Dezember 1863. Noch im gleichen Monat fanden erste Einleitungen zum Bau statt.

Ende des Jahres 1863 fand eine Diskussion über Umfang und Art der Bewaffnung für die neuen Forts Mainspitze, Gonsenheim und Bingen statt. Lauteten die Anträge der Mainzer Festungsbehörden noch auf 34 Geschütze für das Fort Bingen, minderte die Militär-Kommission diesen Antrag auf 25 Geschütze ab, die Bundesversammlung bewilligte für die Beschaffung der Geschütze in allen drei Forts am 28. Januar 1864 insgesamt 270 000 Gulden.

Typologie und Bedeutung

Grundriss des Fort Bingens

Typologisch eingeordnet steht das Fort Bingen am Ende einer Entwicklung, die um 1814 mit der Ausbildung dieser Bauwerke als selbständig zu verteidigende Kampfplätze begann. In seinen Konstruktionsmerkmalen gleicht es den Entwürfen eines typischen Forts der siebziger Jahre, auch wenn es mit seinen sechs Traversen eher dem Typ eines Forts kleinerer Größe zugerechnet werden muss.

Mit dem Bau des Forts Bingen lässt sich eine kontinuierliche Entwicklung in der langsamen, aber sicheren Verdichtung des Festungsgürtels um Mainz feststellen. Interessant erscheint dabei, dass bereits drei Jahre nach Ende des Krimkriegs, endgültig aber auf Grund der Italien-Ereignisse des Jahres 1859 Baumaßnahmen größerer Tragweite eingeleitet wurden, die sich sowohl auf den artilleristischen wie auf den fortifikatorischen Sektor gleichzeitig bezogen.

Ab diesem Zeitpunkt ist erkennbar, dass der Deutsche Bund kaum eine Mühe und auch keinen Aufwand scheut, um Mainz als Hauptbollwerk einer modernen und den Gegebenheilen der Zeit angepassten Festung im Westen Deutschlands den europäischen Mächten präsentieren zu können. Diese Ambitionen wurden auch von Österreich mitgetragen, denn innenpolitisch wäre mit dem Ausscheiden seines finanziellen Engagements wohl auch die letzte starke Position im Westen und damit innerhalb des "Reichs" verloren gewesen.

Bautechnische Einordnung des erhaltenen Raums

Die bautechnische Einordnung der erhaltenen Teile setzt eine Beschreibung des ehemaligen Forts voraus. Von seiner Grundrissform her betrachtet, fällt dieser Forttyp aus der Reihe gängiger Vorstellungen. Der gesamte Grundriss war trapezförmig angelegt und mit einem in der Kehle zurückspringenden Kasemattenkorps versehen, das wiederum an seinen beiden Kehlecken mit je einem doppelstöckigen Flankenkasemattenkorps gesichert wurde. Von der Kehlkasematte führte unterirdisch eine Kapitalpoterne zum Wallkasemattenkorps und unter dem vorderen Graben zur Kontereskarpe, die unterhalb des gedeckten Wegs - dieser befand sich am oberen Glacisrand - an drei Seiten das Fort umlief. Der Hauptwall stieg vom Grabenboden in einem Winkel von etwa 40° an und war unbefestigt. Auf der Grabenmitte stand zwischen Kontereskarpe und Wallfuß eine Mauer. Die Geschützbänke auf dem Wall konnten vom Fortinnern durch ansteigende Rampen erreicht werden; sie waren untereinander durch sechs gemauerte, mit Erde überdeckte Hohltraversen getrennt. Die Grabenmauer lief in der Kehle in die rückwärtige Wallabmauerung (Revetement) über und bildete gleichzeitig den Seitenabschluss der beiden Flankenkasematten.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurden im Rahmen der Entfestigung die über Erdniveau liegenden Teile eingeebnet. Vom Abbruch ausgenommen blieb die Kapitalpoterne, die sich jedoch nur noch in ihrem absteigenden Verlauf erhalten hat und eine ungefähre Vorstellung von den Dimensionen der unterirdischen Anlagen vermittelt, sowie die untere Ebene der rechten Flankenkasematten. Vorhanden, jedoch zerstört und mittlerweile mit Beton ausgegossen wurde der unter dem Fortinnenhof zum Kasemattenkorps verlaufende Teil der Kapitalpoterne. Im Kellerbereich fanden sich während der Ausschachtungsarbeiten noch Fundamentreste der Kontereskarpemauern.

Denkmalpflegerische Aspekte, Maßnahmen der Erhaltung und künftige Nutzung

Das ReWi-Gebäude im Längsschnitt. Unter dem Hörsaal befindet sich die ehem. Flankenkasematte. [Zeichnung: Neumann]

Anlässlich eines Neubaus der Universität Mainz im Bereich des ehemaligen Forts Bingen stand zu erwarten, dass unterirdische bauliche Anlagen berührt werden könnten. Die Kongruenz eines historischen Grundrissplans des Forts mit dem derzeitigen Bestandsplan des Geländes erbrachte den Nachweis, dass an bestimmten Stellen noch verschiedene Stollen und Kasematten vorhanden sein könnten. Ein äußerer Treppenzugang führte zur Kapitalpoterne und der Aufbruch einer bestimmten Stelle im Bereich eines betonierten Parkplatzes in die Flankenkasematten, die sich in bemerkenswert gutem Zustand befanden.

Noch vor Beginn der eigentlichen Planungsarbeiten für den Neubau konnte vom Landesamt für Denkmalpflege, Abt. Archäologische Denkmalpflege Mainz die Denkmalwürdigkeit der Kasematten festgelegt und die Forderung nach baulicher Integration in den Neubau erhoben werden. Auch die vermutete Brunnenanlage in dem rückwärtigen Kehlkasemattenkorps war, sofern sie aufgefunden würde und sich in einem guten Zustand befände, als technisches Denkmal in ihrer Einmaligkeit zu erhalten. Ebenfalls unter denkmalpflegerischen Gesichtspunkten sollte die Kapitalpoterne, soweit möglich, freigelegt und in ihrem Bestand erfasst werden.

Aufgrund der denkmal- pflegerischen Forderungen ließen sich die vorhandenen Flankenkasematten in den Neubau planerisch integrieren. So sollte das Kasemattenkorps achsial unter dem Foyer und Hauptzugang zum Hörsaal des betreffenden Fachbereichsgebäudes zu liegen kommen. Der Zugang war vom Foyer aus gewährleistet, der rückwärtige Raum unter dem Hörsaalboden diente als Druckkammer für die Lüftungsanlagen.

Das Wissen um das Vorhandensein historischer Baureste führte bei den Ausschachtungsarbeiten der Baugrube zu erhöhter Vorsicht. Während der Bauphase wurden die Kasematten durch Querverankerungen gesichert, um ein Auseinanderbrechen der Außenmauern beziehungsweise Zusammenbrechen der Gewölbe zu verhindern.

Im Frühjahr 1991 begannen die Rohbauarbeiten. Halbkreisförmig um das inzwischen freigelegte Kasemattenkorps wuchsen die Außenmauern des Hörsaals empor, die Bodenfundamentplatte lag etwa auf der gleichen Ebene wie die Gründung der Kasematten. Diese selbst waren vorher an ihren Seiten durch eine Tiefgründung gesichert worden und sahen ihrer äußeren Verkleidung entgegen. Raumprogrammatische und statische Überlegungen gestatteten bedauerlicherweise keine Sanierung der Außenwand der Kasematten, um einen Eindruck des ursprünglichen Erscheinungsbildes vermitteln zu können. Dadurch sind leider eine Reihe festungsspezifischer Details wie Scharten- und Lüftungsöffnungen, Mauerwerk und Reihung der Scharten verloren gegangen. Nach Fertigstellung des Neubaus dienen die Kasematten jetzt als Studententreff; dafür mussten allerdings entsprechende Ausbauarbeiten vorgenommen werden.

Mit dem Erhalt und der Integration des Kasemattenkorps (die Kapitalpoterne blieb ebenfalls erhalten, ist jedoch nicht zugänglich) wurde der Nachweis erbracht, dass auch unter zeitlich schwierigen Bedingungen historisch wertvolle, im Boden verborgene Bauwerke noch gerettet, in ihrem Erhalt gesichert und sogar sinnvoll genutzt werden können, wenn das Wissen um diese Teile rechtzeitig bereitgestellt und der kooperative Planungswillen noch vor Beginn der eigentlichen Entwurfsarbeiten für ein Neubauprojekt wie das vorstehend beschriebene vorhanden ist.

Ergebnis und Zusammenfassung

Gemessen an dem ursprünglichen Umfang des Forts Bingen stellen die Flankenkasematten nur einen Bruchteil dessen dar, was einmal an baulicher Substanz vorhanden war. Trotzdem spiegeln sie einen Teil Geschichte an dieser Stelle wider. Sie bilden einen Mosaikstein im Bild der ehemaligen Festung Mainz, die aus vielen verschiedenen Festungsgebäuden bestand und die größtenteils im Erscheinungsbild der Stadt verschwunden sind. Doch nicht nur ober-, sondern gerade unterirdisch sind noch manche Überraschungen auch an anderer Stelle zu erwarten. Beispiele wie das Anfang der achtziger Jahre aufgefundene große Kasemattenkorps auf dem Kästrich haben dies zur Genüge bewiesen. Gerade aus dem geschilderten Fall lassen sich für künftige Funde Regeln ableiten, die mit zu einer akzeptablen Verträglichkeit zwischen "Alt und Neu" führen könnten. Die intensive Auseinandersetzung mit der Historie bleibt dabei unberührt.

Literatur

Auszug aus: Mittelrheinisches Jahrbuch für Archäologie, Kunst und Geschichte, Jahrgang 86, 1991, Seite 219-229.

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